Freitag, 31. Dezember 2021

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

40

 Vernehmungsprotokoll

 

Er sei zwar potentieller Erbe, habe aber, bevor es zur Testamentöffnung komme, schon einmal selber die Schmuckstücke der verstorbenen Tante Siggi sicherstellen wollen. Er habe ja einen Wohnungsschlüssel gehabt, und er sei dann sehr schnell fündig geworden, denn Tante Siggi habe all ihren Schmuck in einer weißen Schmuckschatulle – fünf Fächer und Spiegel im Deckel – in ihrem antiken Sekretär aufbewahrt. Er habe die Schmuckschatulle an sich genommen und nach Hause verbracht.

Schon im ersten Moment habe er daran gedacht, den Schmuck zu Geld zu machen. Er verstehe zwar nichts von Schmuck, aber er habe sich an die Erzählungen von Tante Siggi erinnert, wonach sie und ihr Mann, der schon vor Jahren verstorbene Onkel Gustav, auf ihren Reisen viel Geld für ausgefallenen Schmuck ausgegeben hätten.

Da sein Freund Christian, mit dem er fünf Jahre zusammen gelebt habe, ihn verlassen habe, sei er auf die Idee gekommen, sich mit einem neuen schönen Hobby über seinen Verlust und seine abgründige Traurigkeit hinweg zu trösten. Er habe Uhren reparieren wollen und für dieses Hobby viel Geld gebraucht, denn er habe sich ja die ganze Ausrüstung und Einrichtung erst anschaffen müssen. Die zur Grundausstattung gehörenden Werkzeuge wie Werkhalter, Schraubendrehersatz, Federstegwerkzeug, Staubbläser, Pinzetten, Uhrmacherlupen, aber auch Entmagnetisierer, Dichtigkeitsprüfgerät, und nicht zu vergessen, Zeigerabheber, seien zwar alle nicht so teuer, kosteten aber doch zusammen eine ganze Menge. Zudem brauche man auch einen Satz Öle, spezielle Reinigungsmasse und Öler. Und da er ja zum Einstieg auch eine große robuste Taschenuhr zum Zerlegen gebraucht habe, zwar günstig im Preis, aber auch nicht ganz billig, so habe er also eine größere Summe benötigt. Schließlich sei noch ein Tischaufsatz nötig gewesen, ein normaler Tisch sei ja zu niedrig.

Also habe er Tante Siggis Schmuck, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, in drei Teile geteilt und drei verschiedenen Juwelieren zum Kauf angeboten. Das habe überraschend gut geklappt, die drei Juweliere hätten ihm über anderthalbtausend Euro für Tante Siggis Schmuck gezahlt.


Dieses Geld habe er dann sofort in die Grundausstattung investiert und mit dem Uhren-Zerlegen und -Zusammenbauen begonnen. Die Grundfertigkeiten habe er sich durch das genaue Betrachten der Uhrenbauerkanäle auf Youtube erworben.

Seitdem er Uhren zerlege, wieder zusammenbaue, reinige und repariere, sei er mit seinem Leben wieder zufrieden. Insofern bereue er auch nicht, was er getan habe. Schließlich habe er das Geld für den gestohlenen Schmuck von Tante Siggi gut angelegt. Den Rest des Schmuckgeldes wolle er übrigens dem CBM, der Christoffel-Blindenmission, spenden.

 

Montag, 27. Dezember 2021

 

Illustrierte Kürzestgeschichten

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 Schwarzmeerfrauen

 

Eine Stunde braucht Irene für die Fahrt mit U- und S-Bahn von Berlin-Marzahn nach Berlin-Friedenau, wo sie drei Mal pro Woche in der Wohnung ihrer Enkelin Olga auf ihre Urenkelin Helene aufpasst.

Irene, 1938 als Schwarzmeerdeutsche in der Südukraine geboren, wuchs in Krasnojarsk auf, weil ihre Familie während des Zweiten Weltkrieges 1941 nach Sibirien deportiert wurde. –

1967 heiratete Irene, Sportlehrerin, den Russlanddeutschen Gerhard Andrejewitsch Weber, Ingenieur.

1990 siedelte die Familie mit zwei Töchtern, Erika und Maria, nach Berlin um, wo sie in Marzahn in eine ordentliche Plattenbauwohnung einzogen.

Beide Töchter studierten. Maria wurde Anästhesistin und heiratete einen Chirurgen; deren beider Tochter Olga ist HNO-Ärztin, verheiratet, mit einem Kind; Erika arbeitet als Grafikerin und lebt alleine.

Die Reisen durch Berlin fallen Irene von Mal zu Mal schwerer, aber sie freut sich dann doch sehr, ihre Urenkelin Helene zu sehen und mit ihr zu spielen.

An ihren Tagen in Friedenau übernimmt sie Olgas Haushalt und kauft dafür morgens, wenn sie mit der S-Bahn am Bundesplatz eintrifft, bei ALDI ein.

Für Gerhard Andrejewitsch kauft sie Leberwurst, und damit macht sie ihm, wenn sie abends nach Hause zurückkehrt, eine besondere Freude, denn die ALDI-Leberwurst erinnert Gerhard Andrejewitsch seltsamer Weise an russische Leberwurst mit viel Knoblauch.

 

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Samstag, 25. Dezember 2021

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38

 Frozen Hell oder „Leben ist das, was passiert“

Marwin ist der, der mit seinem Erfindungsreichtum und der vollen Bandbreite seiner Ideen und Visionen die Songs und Bühnenoutfits für „Frozen Hell“ zaubert. Der musikalische Stil von Frozen Hell definiert sich durch die elektronischen Beats der Band, drei Männerstimmen, Bass, Tenor und Countertenor – Marwin, Nico und Lasse. Diese Mischung ist höllisch schrill. Zu ihrem Elektropop passen die frechen, provokanten Texte in deutscher Sprache, in denen sich berlineske Sexyness, Outlawpower plus Glamour zu tiefgekühlter Poetik verbinden.

Mit dem Song „Leben ist das, was passiert“ will Frozen Hell am nächsten European Song Contest in Rotterdam teilnehmen. Um sich in der deutschen Vorentscheidung für die Teilnahme zu qualifizieren, haben Frozen Hell wochenlang in einem Studio in Berlin-Adlershof an ihrem Song, am Rhythmus, an Körpersprache und Mimik gearbeitet. Allmählich hat alles Gestalt angenommen. Besonderen Spaß hat allen die Arbeit am Video gemacht, die Szenen, die sie nachts auf dem Brandenburger Tor, auf einem Kanalbelüftungsschiff und in den Berliner Rieselfeldern mit einem künstlichen Storch gedreht haben.

Jetzt passt alles – aber die Choreographie der Tänzer stimmt noch nicht. Für die Arbeit an der Bühnenperformance hat sich die Band bei einem Ballettmeister in einem Kölner Tanzstudio angemeldet.


Vor dem arbeitsbedingten Umzug nach Köln hat Marwin auf dem HelloVape-Gutscheinchen seine To-do-Liste aufgeschrieben. Durchgestrichen und erledigt: > Steuerberater, > Strähnenfrisur und > Grippe-Impfung. Noch zu erledigen: > Das Briefing zum Auftritt. > Die Kündigung des Probenraums in Adlershof, wo ihm vorige Woche Anne Will über den Weg gelaufen ist, – die ist ja jetzt wieder Single.

Schließlich noch > 30 € einzahlen für Reisepass und Reisegenehmigung (ESTA) für USA.

Früh am Morgen war im Deutschlandfunk die Rede von mehr als zweitausend Erkrankten und 45 Todesopfern durch den Konsum von E-Zigaretten in USA.

Jetzt ist Schluss mit Marwins Überlegungen zum Umstieg von Zigaretten auf HelloVape-Liquids und E-Zigaretten. Marwin will weder Dampfer werden, noch Raucher bleiben.

Schluss mit Rauchen! Endgültig!

Fit bleiben für Frozen Hell!

 

 

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Dienstag, 21. Dezember 2021

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37

 What could be more homely?

 

Kerstin Scheschonka, die aus der Oberlausitz stammt, wo ihr Vater Schäfermeister Dytmar Scheschonka und ihre beiden Brüder Rainer und Danko wie ihre Vorfahren Schafhirten sind und Schafzucht betreiben, war nach der Wende aufgebrochen, um etwas von der Welt zu sehen.

Aber sie blieb bereits in den schottischen Highlands hängen, weil sie sich, um etwas Geld zu verdienen, auf einer Schaffarm bei Glenesk im östlichen Hochland um die Lämmeraufzucht und -fütterung kümmerte, eine zeitaufwendige, anstrengende Arbeit, die ordentlich bezahlt wurde.

Bei der Erkundung der berühmten Whisky-Bar im Glenesk Hotel lernte sie den Schafscherer Shawn kennen, der mit Kollegen und Freunden den Wettbewerbssieg als Gun shearer – ein Schaf in 28 Sekunden! – in der Whisky Bar feierte.

Kerstin und Shawn, diese beiden tatkräftigen und lebenslustigen Menschen fanden also einander und lebten von nun zusammen in Shawns Haus in Dalkeith, einem geerbten, bescheidenen, mit Feldsteinen errichteten Einfamilien-Stadthaus mit zentraler Gasheizung.

Der Streit um den Namen des Babys zwischen Shawn und Kerstin begann schon, ehe das Baby geboren war. Nach Kerstin sollte es Ilse heißen – Ilse nach ihrer Großmutter Ilse Scheschonka –, nach Shawn musste es Bedelia heißen – nach Shawns Großmutter Bedelia Stewart. 

Da Kerstin das Baby unbeabsichtigt und ohne Hilfe im Lämmerstall zur Welt brachte, konnte sie ihren Wunsch durchsetzen, und so wurde das Baby auf den Namen Ilse Bedelia getauft, Ilse Bedelia Scheschonka.

Als Ilse Bedelia zehn Jahre alt war, fand Shawn, der die schweißtreibende Schafschererei aufgab, mit Hilfe seines Onkels Bill Taylor eine gut bezahlte Stelle als Lieferwagenfahrer für die Whiskybrennerei in Lochranza auf der Isle of Arran.

Ilse Bedelia besuchte erst die Arran High School in Lamlash und später die Secondary School in Prestwick, wo sie Home Economics studierte.

Nach Ilse Bedelias Auszug wollten sich Kerstin und Shawn eine längst gewünschte neue Sitzgarnitur mit großem und kleinem Sofa und vielen Kissen kaufen, eine, die sie in Prestwik bei Marks & Spenzer aussuchen wollten.

Während der Fährüberfahrt zum Festland notierte Kerstin, was Shawn vor der Rückfahrt noch in einem Supermarkt in Prestwick einkaufen sollte und was sie in der Küche noch so brauchte: carrots, onions, garlic … and sweet potato wedges.

„BBC Scotland-TV with sweet potato wedges on the new divanwhat could be more homely“, dachte Kerstin, als sie während der Überfahrt zurück nach Arran im scharfen Seewind an der Reeling von Shawn umarmte wurde.

 

 

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Sonntag, 19. Dezember 2021

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36

Aurora

Die 23-jährige Aurora aus Monterosso, Cinque Terre, Ligurien, die mit ihrer älteren Schwester Elena, deren Baby und Freundinnen am alltäglichen sozialen Abendritual teilnahm, der Passeggiata, dem sanften und langsamen Spaziergang entlang der Strandpromenade, beobachtete häufig, wie sich die älteren Jungs aus ihrem Dorf an die meist deutschen oder englischen Touristinnen heranmachten. Diesen Jungs, erzählte man sich im Dorf, gelinge es tatsächlich nicht selten, die Touristinnen zum Sex herumkriegen.

Diese Machos und Riesenbabys, wie Aurora sie für sich charakterisierte, waren ihr absolut zuwider. Sie verglich die Jungs mit dem gleichaltrigen deutschen Kunststudenten Arturo – eigentlich Artur – aus Hamburg, der im Gartenhaus ihrer Schwester wohnte und der täglich mit seinem Zeichenbrett zum Markt und Hafen zog und dort Boote, Fischer, Netzeflicker, Fassaden, Porträts und anderes zeichnete und malte. Dessen ernstes, aber lebhaftes Wesen gefiel ihr sehr, ja sie verliebte sich insgeheim in Arturo. Aber Arturo  ließ sich nichts anmerken oder merkte wirklich nichts.

Nach drei Monaten verabschiedete sich Arturo, ohne dass es zu einer Liebesbeziehung gekommen war. 

Mit all seinen Zeichnungen und großen Bildern reiste Arturo nach Deutschland, Hamburg zurück und ließ fürderhin nichts mehr von sich hören.

Aurora, die in Genua Englisch und Deutsch studierte, bewarb sich zwei Jahre später um einen Erasmus-Studienplatz an der Partneruniversität Hamburg, was alsbald Erfolg hatte.

In Hamburg fand sie eine möblierte Bude, die sehr teuer war. Das war ihr egal, Hauptsache, sie konnte in Hamburg studieren. In der Uni besuchte sie zwei Literaturveranstaltungen, den Sprachkurs von Erasmus und  im Fachbereich Geschichte die Vorlesung "Zur Geschichte einer grundlegenden Kulturtechnik".

Als sie sich - etwa in der dritten Woche Hamburg - in der Mensa mit ihrem Tablett an einen freien Tisch setzte, nahm ihr gegenüber gleichzeitig ein gut aussehender deutscher Student Platz. Nach einigen miteinander gewechselten Sätzen stellte er sich vor als Jan aus Büsum, Schleswig-Holstein. Nachdem Jan und Aurora noch gemeinsam in der Cafeteria zusammen gesessen hatten, lud Jan sie zum Fest eines Freundes am nächsten Tag ein.

In der Wohnung des Freundes entdeckte Aurora zu ihrer größten Überraschung ein großes Gemälde des Hafenplatzes von Monterosso, gemalt von Arturo. Aber damit nicht genug, Arturo selbst war da. Nach freudig-stürmischer Begrüßung hatten die beiden einander und den anderen viel zu erzählen.

Für den nächsten Abend lud Aurora Arturo zum Essen in ihre Bude ein. Sie plante ein festliches italienisches Essen. Deshalb schrieb sie am nächsten Morgen einen Einkaufszettel, und vor lauter Aufregung schrieb sie ihn in Italienisch.

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Freitag, 17. Dezember 2021

 

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 Interview   Dr. Egemen Gümüş

 

h3d:       Herr Dr. Gümüş, ich sehe Sie mit einem Einkaufszettel in der Hand?

E. G.:     Meine Frau möchte ein neues Rezept ausprobieren, um ihren Eltern ein besonderes Pesto zur Pasta servieren zu können. Pürierte Avocado, frisches Basilikum, geröstete Knoblauchzehen, Pinienkerne, aramellisierte Kirschtomaten – ein mediterranes Rezept. Meine Frau ist italienischer Herkunft; ihre Eltern sind Ende der 70er Jahre nach Süddeutschland gekommen.

h3d:       Wie ist denn Ihr Migrationshintergrund?

E. G.:     Meine Eltern sind ebenfalls in den siebziger Jahren eingewandert – aus Anatolien.

h3d:       Eine deutsch-italienisch-türkische Verbindung: Sie katholisch, er Moslem, funktioniert das?

E. G.:     Meine Eltern sind Aleviten. Nächstenliebe, Humanismus und religiöser Kosmopolitismus prägen das Alevitentum. Wegen der Unterdrückung ihres Glaubens haben meine Eltern die Türkei verlassen.

h3d:       Sind Ihre Kinder religiös erzogen?

E. G.:     Se sind christlich – katholisch – getauft, wir gehen mit ihnen in die Kirche und ins Cemevi.

 

Eine rothaarige Kellnerin bringt zwei Cappuccinos.

 

h3d:       Soweit der Einkaufszettel. Eigentlich bin ich hier, um von Ihnen etwas über die neuesten Forschungserkenntnisse in der Paläoanthropologie zu erfahren.

E. G.:     Da man im Höhlensystems von Sterkfontain, Südafrika, mehr Funde vermutete, suchte man kleine, wendige und höhlenerfahrene Nachwuchswissenschaftler, die alles stehen und liegen lassen konnten, sofort bereit stünden und sich durch enge Spalten zwängen könnten. Einer davon war ich. Wir hatten nur eine Woche Zeit, und am Ende der Woche hatten wir mehr als 1.200 Fragmente von Frühmenschenskeletten gefunden, mehr Teile als alle Funde in den vergangenen 90 Jahren zusammen. Knochen von Frauen und Männern, Heranwachsendem, Kindern und Babys. – Das hat zu der aufregenden Entwicklung in der Paläoanthropologie geführt, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Frühmenschenarten verschwimmen. Aus dem aufrecht gehenden Affen sollte sich, so die bisherige Lehrmeinung, irgendwo in Ostafrika die Gattung Homo entwickelt haben – zunächst Homo habilis, dann Homo erectus, schließlich Homo sapiens. Doch so geradlinig kann die Entwicklung nicht verlaufen sein. Heute kennen wir 20 Hominidenarten, die in den letzten sieben Millionen Jahren gelebt haben. Die Geschichte der Menschwerdung ist viel komplizierter als gedacht.


h3d:       Und wie geht es nun weiter?

E. G.:     Wir fotografieren und scannen alles und bitten die Genetiker um die Analyse der DNA der antiken               Häupter.

 

h3d hebt Gümüş’ Einkaufszettel vom Boden auf und legt ihn auf den Tisch.

 

h3d:       Hier – vergessen Sie Ihren Einkaufszettel nicht. Und herzlichen Dank für das Interview, Herr  Gümüş.

E. G.:     Bitte – es war mir ein Vergnügen.

 

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Donnerstag, 16. Dezember 2021

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34

 Der Einkaufszettel des Klaus Wowereit

 

Als er sah, dass Milch und Bananen für das gemeinsame Müsli fehlten, schrieb Niclas beides auf die Rückseite des DHL-Einlieferungsscheins, bevor er aufbrach.

Sara, die wegen ihres Hausarbeitstags viel später aufgestanden war, schrieb noch Fassbrause, Bio Nuss-Nougatcreme, Marmelade und Bier dazu. Mit Bier meinte sie eine Kiste Bitburger Pils a 24 Flaschen für 10,99 €.

Die Einkäufe erledigt Niclas am Samstag.

Während er die Einkäufe mit dem Kasten Bier auf seinem Mokick verstaute, verlor er den Einkaufszettel.

Niclas’ und Saras Einkaufszettel ist der Zettel, den ich bei den Einkaufswagen von EDEKA gefunden habe.

Leider kann ich Euch nichts über Niclas und Sara erzählen, denn ich kenne sie nicht. Aber ich denke mir, dass es Normalmenschen in ihren Zwanzigern sind. Niclas ist vielleicht schon dreißig.

Einkaufszettel von Prominenten, von Schauspielerinnen, Politikern oder von Bundeskanzlerin Angela Merkel wird man sehr wahrscheinlich nie finden. Und wenn, wären es sicherlich 1A-Sammlerstücke.

Aber es könnte sein, dass der vorvormals regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, mal einen Einkaufszettel schrieb, den er dann auf dem Wittenbergplatz verlor.

Wer den gefunden hätte, hätte ihn vielleicht bei einem berühmten Auktionshaus in Berlin versteigern können, vorausgesetzt, er hätte beweisen können, dass Wowi ihn geschrieben habe. –

Wer wohl wie viel für den Klaus Wowereit-Einkaufszettel bieten würde?

 

 

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Dienstag, 14. Dezember 2021

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33

Forstwirt, Zweirad-Mechatroniker oder Kindergärtner

 












Für wen er eingekauft habe?

Für Oma oben weiches Toast. Und das andere für seine Mutter.

Ob er ein gutes Zeugnis bekommen habe. – Ja.

Ob er wisse, was er lernen oder arbeiten wolle. – Ja.

Was denn? – Forstwirt.

O – was machen Forstwirte?

Im Wald arbeiten. Bäume fällen, Wege bauen.

Das sei ja prima.

Ja. Immer draußen – frische Luft.

Wie lange dauere die Ausbildung? – Drei Jahre.

Wo fände das statt? – Weit im Westen, in der Eifel, in Schleiden.

Wie er auf Forstwirt gekommen sei?

Wald – Maschinen – Computer – das interessiere ihn eben.

Wieso Maschinen? 

 Na, – Motorsägen, Seilwinden, Schlepper fahren, Maschinen reparieren und so.

Und Computer? 

 Holzmengen berechnen, Preise aufschreiben, kalkulieren und so.

Lerne er auch jagen? 

 Ja, klar. Auch schießen. Und alles über Tiere im Wald.

Ob er wisse, wann seine Ausbildung anfange?

Im Herbst.

Was wolle er denn bis dahin machen?

Das wisse er noch nicht. Vielleicht was mit Kindern in einer Kita.

Wie er denn darauf gekommen sei?

Die kleinen Kinder machten ihm Spaß.

Wo er denn Kontakt zu kleinen Kindern habe?

Na, nebenan sei doch eine Kita. Und wenn er da vorbei komme, spiele er eben mit den Kindern Zoo.

Wie das denn gehe?

Am Zaun sei er Besucher, die Kinder die wilden Tiere.

Und dann?

Die Kinder fauchten und knurrten, und er springe vor Angst zurück. Das mache den Kindern und ihm Spaß.

Ob er in der Kita gefragt habe, ob sie ihn brauchten.

Nein.

Warum nicht? –

Er überlege noch. Vielleicht könnte er auch in einem Fahrradladen mitarbeiten.

An Mountainbikes zu schrauben, fände er cool.

Ob er wisse, was er da verdiene?

Nein, aber er könnte Zweirad-Mechatroniker werden.

Aber er wolle doch Forstwirt werden?

Ja, seine Freundin fände das besser.

Forstwirte könnten auch Kinder durch den Wald führen und ihnen alles im Wald erklären.

Na, dann alles Gute für Dich, Paul!

 

 

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Montag, 13. Dezember 2021

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32

 Aglaias Pflaster

Beim schlaftrunkenen Gang in die Küche fiel ihr Blick auf den großen Hibiskus neben dem Wohnzimmerfenster. Die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen trafen den Baum so, dass viele seiner Blätter grüngolden aufleuchteten. Dazu die Schatten, dunkle Kontraste. Aglaia war verblüfft, sie ging zurück und griff ihr Smartphone, um diesen grüngolden-schwarzen Effekt zu fotografieren, für ihr Tagebuch. Aglaia liebte plötzliche ästhetische Überraschungen im Alltag.

Neben den Teepott und die ausgebreitete Zeitung schüttete sie aus dem Glas mit Nüssen, Mandeln, getrockneten Kirschen und Pflaumen, die Mischung, die immer auf dem Tisch stand, auf die Tischplatte, zog den Schreibblock heran und notierte, was sie heute einkaufen wolle. Was sie notiert hat, braucht sie nicht mehr im Kopf zu haben.

Sie sah die gedruckten Sonnenblumen auf dem Zettel und sie erinnerte sich, dass ihr die Apothekerin diesen Schreibblock für zwei Euro aufgeschwatzt hatte. Die beiden Euros seien eine Spende für die Albert Schweitzer Kinderdörfer, Lebensgemeinschaften für Kinder, die nicht in ihren Herkunftsfamilien leben könnten. Na, gut.

Eigentlich war sie in die Apotheke gegangen, um zu sehen, ob die Apothekerin neue Pflaster hereinbekommen hatte.

Aglaia war stolz auf ihre Plastersammlung. Vor etwa zehn Jahren hatte sie angefangen, Kinderpflaster mit Motiven, sogenannte Trostpflaster, zu sammeln, und jetzt besaß sie  die wahrscheinlich größte Kinderpflastersammlung der Welt, vier Regale mit Wundpflastern. Kinderpflaster für Mädchen und Jungen. Wundschnellverbände mit Motiven wie Fußball, Micky Maus, Piraten und Goldmünzen, mit Robotern, Engeln, Schmetterlingen, einfach mit all den Motiven, mit denen man Kinder bediente, um ihnen und ihren Eltern das Geld aus den Taschen zu ziehen.

Aber kritische Überlegungen zu ihren Pflastern verbot sich Aglaia. Ihr kam es darauf an, die Sammlung zu vervollständigen. Neuerdings sammelte sie auch die hübschen Blechdosen für Pflaster.

Von der Apothekerin, zu der Aglaia ein freundschaftliches Verhältnis hatte, hatte sie erfahren, dass in USA neuerdings Design-Pflaster mit Jesus-Motiven herausgekommen seien.

Die wollte sie sich bei Amazon bestellen und darum notierte sie gedankenverloren wieder Pflaster.

Bevor sie die Zeitung aufschlug, stellte sie sich ein Jesus-Pflaster vor.

Toll! Ein Jesus-Pflaster!

Eine bessere Idee konnte es nicht geben!

Unser Heiland, das Pflaster, die aufgelegte Hand!

Das Wunder.

Das Wundheilpflaster.

 

 

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Samstag, 11. Dezember 2021

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31

 Ladykracher1

 


Wer könnte diesen Einkaufszettel geschrieben haben? Eine Ausländerin, denk’ ich, jemand, der Probleme mit dem lateinischen Alphabet hat.

Vielleicht eine Araberin, jemand, der das lateinische Alphabet übt. Beachte zum Beispiel das zweite „a“ in Vétalwasser: Der Auslaufstrich am „a“ ist verkehrt herum gesetzt. Insgesamt herrscht Unsicherheit und Ungeübtheit im Schreiben.

Für ihre Kinder, den zehnjährigen Baschar und die achtjährige Esma will die Schreiberin – nennen wir sie Fadwa – Sixpacks von Fanta und Cola kaufen, aber sie weiß nicht, dass ein Sixpack nicht „Packung“ genannt wird. Dass man Ibuflam, das bekannte Mittel zur Behandlung von leichten bis mäßig starken Schmerzen, Fieber und Entzündungen, nicht, wie in ihrer Heimatstadt Aleppo, im Supermarkt kaufen kann, sondern nur in der Apotheke, das weiß Fadwa noch nicht.

Nach dem Tod ihres Mannes Iskandar ist Fadwa mit ihrem letzten Geld 2015 aus Aleppo über die östliche Mittelmeerroute, über Lesbos, Athen, Nordmazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich nach Berlin geflüchtet. Seit der Bewilligung ihres Asylantrages und dem Umzug in eine eigene kleine Wohnung 2018 nimmt sie an Alphabetisierungs- und Integrationskursen des BAMPF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) teil.

Mit dem Schreiben- und Lesenlernen ist sie sozusagen umalphabetisiert worden. Nun übt sie das Schreiben gemeinsam mit ihren Kindern. Aber Baschar und Esma, die in die Schule gehen, können schon viel besser schreiben und lesen als Fadwa – was Fadwas Ehrgeiz anstachelt.


Es ist sehr interessant, im Integrationskurs mit Frauen aus verschiedenen Ländern zusammen zu treffen. Besonders spannend findet es Fadwa, im dreistündigen Alphabetisierungs- und Integrationskurs am Ende jeden Tages mit der Lehrerin einen der „Ladykracher“ -Sketchfilme mit Anke Engelke anzusehen und zu besprechen. Das ist für Fadwa jedes Mal verwirrend und befreiend zugleich. – Deutschland ist ein anstrengendes Land, denkt Fadwa, aber es st zum Lachen, und es hilft mir.

 

Diese Erzählung ist doch totaler Quatsch und eine völlig unpassende Erfindung! Allein das Wort „Ladykracher“ als Titel der Anke Engelke-Sketche wäre Ausländern nur schwer verständlich zu machen. Außerdem wäre es für land- und sprachfremde Menschen doch eine völlige Überforderung, am Ende dreier Übungsstunden noch ein Video der Ladykracher-Comedy-Serien anzuschauen.

Also: Total daneben!

 

1 „Ladykracher“ ist eine von 2002 bis 2003 und von 2008 bis 2013 von Sat 1 ausgestrahlte Comedyserie. Die Sendung erhielt mehrfach den Deutschen Fernsehpreis und den Deutschen Comedypreis in der Kategorie Beste Comedysendung. Alle Folgen der Serie sind auf MySpass.de und bei YouTube zusehen. Wikipedia

 

 

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Donnerstag, 9. Dezember 2021

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30

 Stichwort des gemeinsamen Glücks

 

Eine junge, handwerklich-künstlerisch begabte Berlinerin, die sich während ihrer Schulzeit permanent mit ihrem Vater gestritten hatte, wollte nach ihrem Abitur einfach nur weg von ihrer Familie, zog hopplahopp zu Hause aus, mietete eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem anderen Bezirk und musste von Stund an jobben, um ihre Wohnung finanzieren zu können.

Flora, die sich eigentlich einem künstlerischen Studium widmen wollte – vielleicht Bühnenbild, Kostümbildnerei, Modedesign –, merkte jetzt, dass sie den Job als Kellnerin in einer Eisdiele so sehr genoss, dass sie ein Studium erst einmal hintan stellte. Die freundliche Kommunikation mit der sehr unterschiedlichen Kundschaft, die an ihr hängenden Blicke der jungen Männer, die zu Dutzenden sich mit ihr verabreden wollten und von denen etliche nach Dienstschluss auf sie warteten, um sie nach Hause zu begleiten –, das alles gefiel ihr sehr. Ja, ihr Leben als Berliner Eisdielenjobberin mit selbstfinanzierter Wohnung bereitete ihr soviel Daseinsglück, dass sie ihre Vorstellungen von einem Kunststudium aufgab.

Aber ihr Interesse an selbstbestimmtem kreativen Arbeiten erlosch nie gänzlich, was daran zu erkennen war, dass sie eines Tages begann, Jahr für Jahr Kurse in Malen, Zeichnen, Weben und Werken in einem Werkhof in Westdeutschland zu nehmen.

Nun geschah es, dass sie sich mit einem der jungen Männer, der, wie zuvor viele andere, vor der Eisdiele auf sie gewartet hatte, um sie nach Hause zu begleiten, einem attraktiven Luftfahrtingenieur, so gut unterhielt, dass sie ihn vor ihrer Haustür auf einen letzten Kaffee in ihre Wohnung mit herauf bat.

Nachdem Joachim den Kaffee getrunken, etwas verlegen neben ihr gesessen, mit ihren langen Haaren in seinen Fingern gespielt und sie zum ersten Mal geküsst hatte, kam es, wie es kommen musste.

Sie wurden ein Paar.

Ob der starken Übereinstimmung ihrer Interessen, Werturteile und Vorlieben schätzten sich beide glücklich. Es passte halt alles, bis auf das Eine: Er war Fleischesser, sie Vegetarierin.

Achtsam würde sie ihn nach und nach von der Fleischesserei wegführen, ihn passiv missionieren, nahm sie sich vor.

Und für ihr erstes gemeinsames Abendessen bereitete sie eine Gemüsepfanne, die Joachim lebenslang unvergesslich blieb. Ein leises von ihm oder von ihr gehauchtes, unverständliches „Gemüsepfanne“, erinnerte beide fortan an diese allererste Stunde ihres gemeinsamen Glücks.

 

 

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Dienstag, 7. Dezember 2021

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29

 Oachkatzlschwoaf und Fichtendickicht

 

Lukas, ein sechsjähriger Schulbub im 7. Wiener Bezirk, der zwar erst das erste Schuljahr besucht, aber schon sehr gut lesen und schreiben kann, hat seit einiger Zeit besonderes Vergnügen daran, die Einkaufszettel für seine Mutter zu schreiben.

Am liebsten schreibt Lukas am Küchentisch, während seine Mutter, eine berufstätige Software-Entwicklerin, das Essen zubereitet oder die Spülmaschine aus- oder einräumt. Lukas schreibt dann mit Druckbuchstaben, die er unter den Augen von Zita, seiner Schwester, schon vor Beginn seines ersten Schuljahres oft geübt hat, sorgfältig und langsam auf, was ihm seine Mutter Theresa aufzählt: Naturjoghurt, gefrorene Himbeeren, Zitronen im Netz, Geheimratskäse, Schlagobers, Marillen, Topfen usw., Lebensmittel, die seine Mutter später bei BILLA, dem Supermarket auf der Zieglergasse einkaufen will. Zum Schluss des Einkaufszettelschreibens darf Lukas noch etwas für sich selbst auf den Zettel schreiben. Also notiert er Sportgummi, seine beliebten Egger Fruchtgummis. Und auch ein Herzchen fügt er hinzu. Das hat er bei Zita abgeguckt, denn die ist verliebt und zeichnet seit neuestem dauernd Herzchen überall hin.

Da Lukas Mutter Wienerin ist, die während ihres Studiums Prof. Dr. Florian H. aus Berlin, Informatikwissenschaftler der Medizininformatik, kennengelernt und 2010 geheiratet hat, sind Lukas und seine Schwester von Geburt an Österreicher und Deutsche, was besonders Lukas so gut gefällt, dass er es bei jeder Gelegenheit allen Leuten erzählt.

Lukas hat in seinem Kindergarten an dem Projekt „Dialektförderung“ teilgenommen und kann daher etliche spezielle wienerische Wörter sehr gut aussprechen. Mit seinem Weanerisch entwickelt er sich mittlerweile zu einem Medienprofi, der weiß, womit man bei Erwachsenen Eindruck schinden kann.

Als sein Berliner Opapa im September acht Tage zu Besuch bei ihnen wohnt, bittet Lukas ihn am ersten Morgen, ihm „Oachkatzlschwoaf“1 nachzusprechen.


Der Opapa schafft das nicht – aber er bittet Lukas, ihm schnell hintereinander nachzusprechen:

Im dicken dichten Fichtendickicht nicken dicke Fichten tüchtig.

Nach dem dritten Versuch hat Lukas es drauf: „Im dicken dichten Fichtendickicht nicken dicke Fichten tüchtig.

„Kann ich“, sagt Lukas.

 

 

[1] österreichisch: Oachkatzlschwoaf = Eichkätzchenschweif = deutsch: Eichhörnchenschwanz

 

 

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Montag, 6. Dezember 2021

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28


 










Gedicht

 

H. D. Quarz

 

Trost-Toast

 

Toast und Suppengrün

Brötchen und Salat

Wurst und auch Tomaten

Thunfisch Mais und ein paar Wiener

Kartoffeln Linsen und viel Mais.

 

Ach,

Alles für den billigen Trost.

 

 

 

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Sonntag, 5. Dezember 2021

 

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Eine unerhörte Geschichte

Gesine, eine temperamentvolle Rendsburgerin, die nach fixem Wochenendeinkauf des Üblichen – Zucker, Mehl, Kaffee, Kartoffeln, dunkle Schoko zum Backen, Brot, Bier, Selters, Fisch, etc. – mit ihrem Einkaufswagen dem Markt in der Nordmarkhalle zustrebte, um an den Marktständen, an denen sie normaler Weise gerne mit den Leuten ein bisschen schnackte, noch Gemüse und frische Gewürze einzukaufen, war ungeduldig und hatte es sehr eilig, weil sie sich beim jährlich stattfindenden „Rendsburger Herbst“ auf dem Paradeplatz die jungen Männer, die am Baumsägewettbewerb teilnehmen würden, ansehen wollte.

Gesine, die bei all ihren bisherigen Versuchen, mittels Singlebörsen im Internet einen guten Typen zu finden, keinen Erfolg gehabt hatte, wollte es wieder mit der Wirklichkeit versuchen.

Schnell verstaute sie ihren Einkauf, zog sich um, das ärmellose Rote mit dem Glockenrock, hübschte sich auf, sprühte eine Wolke Parfüm in die Luft, drehte sich einmal in der Wolke, sprühte auf ihre Haare, schloss ab, verließ das Haus, lief zur Kreuzung, hielt ihr Smartphone an den ersten E-Scooter und rollte mit zwanzig Sachen los, Richtung „Rendsburger Herbst“.

Sie schob sich durch das Gedränge und stand ganz plötzlich in der Runde um die Baumsäger, verstand sofort, dass beim Sägen mit der Bogensäge nicht nur die Zeit genommen wurde, sondern auch, dass die Scheibe 555 Gramm wiegen sollte.

Gerade war unter Klatschen und Rufen eine Scheibe heruntergefallen, war aufgehoben und gewogen, ihr Gewicht nebst Zeit auf einer Tafel notiert worden – bisher kürzeste Zeit, Gewicht 563 gr. – da sah sich Gesine einem der beiden farbigen Säger gegenüber. Gepackt von der freudigen Erregung ringsumher sprang sie den fremden schwarzen Mann freudig an, umarmte ihn und gratulierte, natürlich auch seinem schwarzem Mitsäger.

Um diese Geschichte zu Ende zu bringen, muss noch erzählt werden, dass die beiden Afrikaner, Akono und Mojo, Freunde seit ihrer gemeinsamen Flucht durch Mali, Niger, Libyen, Italien, 2015 in die Bundesrepublik gekommen, anerkannte Asylbewerber in der BRD,  recht gut Deutsch sprachen und Jobs als Staplerfahrer bei IKEA in Kiel hatten.

Ein halbes Jahr später heirateten Gesine und Akono.

Ihr Baby heißt Mara, und Mojo war Pate.

Ja, es passieren Geschichten, die man kaum glauben kann.

 

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