Illustrierte
Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
35
h3d:
Herr Dr. Gümüş, ich sehe Sie mit einem Einkaufszettel in der
Hand?
E.
G.: Meine Frau möchte ein neues Rezept
ausprobieren, um ihren Eltern ein besonderes Pesto zur Pasta servieren zu
können. Pürierte Avocado, frisches Basilikum, geröstete Knoblauchzehen, Pinienkerne, aramellisierte Kirschtomaten – ein
mediterranes Rezept. Meine Frau ist italienischer Herkunft; ihre Eltern sind
Ende der 70er Jahre nach Süddeutschland gekommen.
h3d:
Wie ist denn Ihr Migrationshintergrund?
E.
G.: Meine Eltern sind ebenfalls in den
siebziger Jahren eingewandert – aus Anatolien.
h3d:
Eine deutsch-italienisch-türkische
Verbindung: Sie katholisch, er Moslem, funktioniert das?
E.
G.: Meine Eltern sind Aleviten.
Nächstenliebe, Humanismus und religiöser Kosmopolitismus prägen das Alevitentum.
Wegen der Unterdrückung ihres Glaubens haben meine Eltern die Türkei verlassen.
h3d:
Sind Ihre Kinder religiös erzogen?
E.
G.: Se sind christlich – katholisch –
getauft, wir gehen mit ihnen in die Kirche und ins Cemevi.
Eine
rothaarige Kellnerin bringt zwei Cappuccinos.
h3d:
Soweit der Einkaufszettel. Eigentlich bin ich
hier, um von Ihnen etwas über die neuesten Forschungserkenntnisse in der Paläoanthropologie zu erfahren.
E. G.: Da man im Höhlensystems von Sterkfontain,
Südafrika, mehr Funde vermutete, suchte man kleine, wendige
und höhlenerfahrene Nachwuchswissenschaftler, die alles stehen und liegen
lassen konnten, sofort bereit stünden und sich durch enge Spalten zwängen
könnten. Einer davon war ich. Wir hatten nur eine Woche Zeit, und am Ende der
Woche hatten wir mehr als 1.200 Fragmente von Frühmenschenskeletten gefunden,
mehr Teile als alle Funde in den vergangenen 90 Jahren zusammen. Knochen von
Frauen und Männern, Heranwachsendem, Kindern und Babys. – Das hat zu der aufregenden
Entwicklung in der Paläoanthropologie geführt, dass die Grenzen zwischen den
einzelnen Frühmenschenarten verschwimmen. Aus dem aufrecht gehenden Affen
sollte sich, so die bisherige Lehrmeinung, irgendwo in Ostafrika die Gattung
Homo entwickelt haben – zunächst Homo habilis, dann Homo erectus, schließlich
Homo sapiens. Doch so geradlinig kann die Entwicklung nicht verlaufen sein.
Heute kennen wir 20 Hominidenarten, die in den letzten sieben Millionen Jahren
gelebt haben. Die Geschichte der Menschwerdung ist viel komplizierter als
gedacht.
h3d:
Und wie geht es nun weiter?
E.
G.: Wir fotografieren und scannen alles und
bitten die Genetiker um die Analyse der DNA der antiken Häupter.
h3d hebt Gümüş’ Einkaufszettel vom Boden auf und legt ihn auf den Tisch.
h3d: Hier – vergessen Sie Ihren Einkaufszettel nicht.
Und herzlichen Dank für das Interview, Herr Gümüş.
E.
G.: Bitte – es war mir ein Vergnügen.
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