Sonntag, 19. Dezember 2021

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Aurora

Die 23-jährige Aurora aus Monterosso, Cinque Terre, Ligurien, die mit ihrer älteren Schwester Elena, deren Baby und Freundinnen am alltäglichen sozialen Abendritual teilnahm, der Passeggiata, dem sanften und langsamen Spaziergang entlang der Strandpromenade, beobachtete häufig, wie sich die älteren Jungs aus ihrem Dorf an die meist deutschen oder englischen Touristinnen heranmachten. Diesen Jungs, erzählte man sich im Dorf, gelinge es tatsächlich nicht selten, die Touristinnen zum Sex herumkriegen.

Diese Machos und Riesenbabys, wie Aurora sie für sich charakterisierte, waren ihr absolut zuwider. Sie verglich die Jungs mit dem gleichaltrigen deutschen Kunststudenten Arturo – eigentlich Artur – aus Hamburg, der im Gartenhaus ihrer Schwester wohnte und der täglich mit seinem Zeichenbrett zum Markt und Hafen zog und dort Boote, Fischer, Netzeflicker, Fassaden, Porträts und anderes zeichnete und malte. Dessen ernstes, aber lebhaftes Wesen gefiel ihr sehr, ja sie verliebte sich insgeheim in Arturo. Aber Arturo  ließ sich nichts anmerken oder merkte wirklich nichts.

Nach drei Monaten verabschiedete sich Arturo, ohne dass es zu einer Liebesbeziehung gekommen war. 

Mit all seinen Zeichnungen und großen Bildern reiste Arturo nach Deutschland, Hamburg zurück und ließ fürderhin nichts mehr von sich hören.

Aurora, die in Genua Englisch und Deutsch studierte, bewarb sich zwei Jahre später um einen Erasmus-Studienplatz an der Partneruniversität Hamburg, was alsbald Erfolg hatte.

In Hamburg fand sie eine möblierte Bude, die sehr teuer war. Das war ihr egal, Hauptsache, sie konnte in Hamburg studieren. In der Uni besuchte sie zwei Literaturveranstaltungen, den Sprachkurs von Erasmus und  im Fachbereich Geschichte die Vorlesung "Zur Geschichte einer grundlegenden Kulturtechnik".

Als sie sich - etwa in der dritten Woche Hamburg - in der Mensa mit ihrem Tablett an einen freien Tisch setzte, nahm ihr gegenüber gleichzeitig ein gut aussehender deutscher Student Platz. Nach einigen miteinander gewechselten Sätzen stellte er sich vor als Jan aus Büsum, Schleswig-Holstein. Nachdem Jan und Aurora noch gemeinsam in der Cafeteria zusammen gesessen hatten, lud Jan sie zum Fest eines Freundes am nächsten Tag ein.

In der Wohnung des Freundes entdeckte Aurora zu ihrer größten Überraschung ein großes Gemälde des Hafenplatzes von Monterosso, gemalt von Arturo. Aber damit nicht genug, Arturo selbst war da. Nach freudig-stürmischer Begrüßung hatten die beiden einander und den anderen viel zu erzählen.

Für den nächsten Abend lud Aurora Arturo zum Essen in ihre Bude ein. Sie plante ein festliches italienisches Essen. Deshalb schrieb sie am nächsten Morgen einen Einkaufszettel, und vor lauter Aufregung schrieb sie ihn in Italienisch.

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