Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Eine junge, handwerklich-künstlerisch begabte
Berlinerin, die sich während ihrer Schulzeit permanent mit ihrem Vater
gestritten hatte, wollte nach ihrem Abitur einfach nur weg von ihrer Familie,
zog hopplahopp zu Hause aus, mietete eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem anderen
Bezirk und musste von Stund an jobben, um ihre Wohnung finanzieren zu können.
Flora, die sich eigentlich einem künstlerischen
Studium widmen wollte – vielleicht Bühnenbild, Kostümbildnerei, Modedesign –,
merkte jetzt, dass sie den Job als Kellnerin in einer Eisdiele so sehr genoss,
dass sie ein Studium erst einmal hintan stellte. Die freundliche Kommunikation
mit der sehr unterschiedlichen Kundschaft, die an ihr hängenden Blicke der
jungen Männer, die zu Dutzenden sich mit ihr verabreden wollten und von denen
etliche nach Dienstschluss auf sie warteten, um sie nach Hause zu begleiten –,
das alles gefiel ihr sehr. Ja, ihr Leben als Berliner Eisdielenjobberin mit
selbstfinanzierter Wohnung bereitete ihr soviel Daseinsglück, dass sie ihre
Vorstellungen von einem Kunststudium aufgab.
Aber ihr Interesse an selbstbestimmtem kreativen
Arbeiten erlosch nie gänzlich, was daran zu erkennen war, dass sie eines Tages
begann, Jahr für Jahr Kurse in Malen, Zeichnen, Weben und Werken in einem
Werkhof in Westdeutschland zu nehmen.
Nun geschah es, dass sie sich mit einem der
jungen Männer, der, wie zuvor viele andere, vor der Eisdiele auf sie gewartet
hatte, um sie nach Hause zu begleiten, einem attraktiven Luftfahrtingenieur, so
gut unterhielt, dass sie ihn vor ihrer Haustür auf einen letzten Kaffee in ihre
Wohnung mit herauf bat.
Nachdem Joachim den Kaffee getrunken, etwas
verlegen neben ihr gesessen, mit ihren langen Haaren in seinen Fingern gespielt
und sie zum ersten Mal geküsst hatte, kam es, wie es kommen musste.
Sie wurden ein Paar.
Ob der starken Übereinstimmung ihrer
Interessen, Werturteile und Vorlieben schätzten sich beide glücklich. Es passte
halt alles, bis auf das Eine: Er war Fleischesser, sie Vegetarierin.
Achtsam würde sie ihn nach und nach von der
Fleischesserei wegführen, ihn passiv missionieren, nahm sie sich vor.
Und für ihr erstes gemeinsames Abendessen bereitete
sie eine Gemüsepfanne, die Joachim lebenslang unvergesslich blieb. Ein leises von
ihm oder von ihr gehauchtes, unverständliches „Gemüsepfanne“, erinnerte beide
fortan an diese allererste Stunde ihres gemeinsamen Glücks.
klick!
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