Samstag, 5. Februar 2022

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Mückenschutz


     Michelles Eltern, Camille und Thomas, sie Dozentin für Französisch an der HU Berlin, er Journalist und Leiter des Hauptstadtstudios der Deutschen Welle, hatten für Michelle bei guter Gelegenheit im Seitenflügel des Hauses an der Schillerpromenade, in dem sie selbst im Vorderhaus wohnten, eine kleine Wohnung gekauft, renoviert und eingerichtet, so dass Michelle ein halbes Jahr nach ihrem Abitur dort einzog.

Sie begann an der FU mit dem Studium Geowissenschaften. Bodenkunde, Fossilienkunde, Erdgeschichte, Gesteinskunde, Kartografie, für all das hatte sie sich in den letzten beiden Jahren sehr interessiert. Oberstudienrat Dr. Nussbaum hatte ihr das alles nahegebracht, und in Mathematik, Physik und Chemie hatte sie auch sehr gute Noten.

Aber nachdem sie sich ihre Seitenflügelwohnung wohnlich eingerichtet hatte, spürte sie, dass es ihr genauso ging, wie etlichen ihrer Mitschülerinnen. Sie möchte erstmal ein Jahr lang reisen und die Welt erkunden, ehe sie mit dem Studium begänne. Am schönsten fände sie es, wenn sie alle Erdteile besuchen könnte. Geld hatte sie gespart, und wenn es nicht reichte, könnte sie ja jobben.


Da sie Spanisch gelernt hatte, wollte sie sich zu erst in Mexiko umsehen, im zentralen Hochland mit seinen Vulkanen und Maya-Ruinen wandern, dann im Norden Mexikos bei Casas Grande die Bergwälder und prähistorischem Felsmalereien erkunden und schließlich über Yucatán mit seinem tropischen Klima nach Mexiko-Stadt zurückkehren. Sie bereitete sich sehr gut vor, las viel über Land und Leute, ließ sich Gelbfieber impfen und kaufte selbst eine Menge Mückenschutz ein, schlug die Warnungen ihrer Eltern und die des Auswärtigem Amtes wegen der Drogenkriege in den Wind, wollte ihre Wohnung gerade untervermieten und hätte sich das Flugticket gekauft, wenn nicht just Ende Februar die Corona-Pandemie bedrohlich aktuell geworden wäre.

Jetzt hing sie fest in Berlin, in ihrer kleinen Einzimmerwohnung mit Küche, Flur und Bad im Seitenflügel in der Schillerpromenade. Die FU-Lehrveranstaltungen in Geowissenschaften liefen in digitaler Form ab. Es gab keine Präsenzveranstaltungen. Immerhin konnte sie in den Parks und im Grunewald joggen – aber was war das verglichen mit ihrer geplanten Abenteuerreise durch Mexiko.

Sie fühlte sich sehr schlecht, hatte Gliederschmerzen und das Gefühl, einen grippalen Effekt zu haben. Sie brauchte also ein Erkältungsbad und Nasenspray gegen ihren akuten Schnupfen. Und weil alles unendlich frustrierend war, brauchte sie jetzt Chips, Schwipp-Schwapp und knisterndes Kaktuseis. Müllbeutel. Küchenpapier und Schwämme müssten auch her, um endlich wieder die Küche aufzuräumen, sobald es ihr etwas besser ging.

Im Flur sah sie die vier Dosen tropentauglichen Insektenschutz und knochentrocken realistisch fragte sie sich: „Michelle, glaubst Du, dass Du je nach Mexiko kommst?“

 

 

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