Sonntag, 9. Januar 2022

Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Alle Jahre wieder

 

Margret saß in der Küche. Das Radio lief, aber während sie die Sachen, die sie zum Backen und für ihre Frühstücke noch brauchte, auf den vorgedruckten Einkaufszettel „Es weihnachtet sehr“ schrieb, achtete sie nicht auf die Stimmen im Radio.

Sie dachte daran, einige neue Liedtexte der Kölner Karnevalbands, der Höhner, Paveier, Klüngelköpp, Bläck Föös, Kasalla, und wie sie alle heißen, im Internet zu suchen, anzuhören und eventuell auszudrucken, damit sie die bis Mitte Januar auswendig lernen könnte, wenigstens die Refrains, die ihr am besten gefielen. Die Refrains waren ja super einfach, und die hatte sie erfahrungsgemäß schnell drauf. Zum Beispiel Kasalla: „Oh Oh Joldfesch und Piranha / Oh ho ho Pommes und Champagna“ – oder: „Rette sich wä kann / mer lääje aan / Pirate – wild un frei / Dreimol Kölle Ahoi / Und dä Dudekopp op unsrer Fahn / hät en rude Pappnaas aan.“ –


Margret plante, Ende Januar am neuen Kölner Kult, dem gemeinsamen Ansingen neuer Karnevalslieder, dem „Einsingabend“ im Rhein-Energie-Stadion in Müngersdorf teilzunehmen. Lisa, die voriges Jahr zum ersten Mal dort mitgesungen hatte, hatte ihr davon vorgeschwärmt. Es seien natürlich auch alte Lieder gesungen worden, zum Beispiel „In unserm Veedel“ …. Die Werbung für den Einsingabend 2020 war schon Ende November mit „Hallo Jecke, Immis, Kölsche nah und fern, et jeit widder loss“ in allen Kölner Stadtzeitungen erschienen.

Margret merkte nicht, dass sie in ihren Gedanken die vorgedruckte Schrift des Einkaufzettels, die Herzchen und Pünktchen, nachzeichnete.

Aber plötzlich war sie hellwach. Sie hörte eine deutliche Lautsprecherwarndurchsage. „Wegen einer Bombenentschärfung – 500 Kilogramm schwere Fliegerbombe – Gefahrenbereich innerer Kreis – um 13 Uhr – Wohnung verlassen.“

Da schellte es. Sie lief zur Tür, öffnete. Ein Polizist stand vor ihr und überreichte ihr eine Checkliste: „Worauf beim Verlassen der Wohnung zu achten ist“.

Eine dreiviertel Stunde später betrat sie die Mehrzweckhalle im Schulzentrum Köln-Weiden. Menschen jeden Alters saßen, standen und spazierten herum. Es war voll. Sie hatte sich kaum umgesehen, da bemerkte sie einen bärtigen, circa Vierzigjährigen, der mit Gitarre auf einer Bank stand und zwei, drei Mal laut in die Menge rief: „Ich schlage vor, die Wartezeit mit Singen zu verbringen. Was wollt Ihr singen? Weihnachtslieder oder Karnevalslieder?“ – „Loss mer Weihnachtsleeder singe!“ rufen einzelne der Nächststehenden zurück und mit seinen ersten Gitarregriffen stimmt der Bärtige an:  

Alle Jahre wieder

kommt das Christuskind

auf die Erde nieder,

wo wir Menschen sind.

 

 

 

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