Sonntag, 23. Januar 2022

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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7.4.2020

Corona-Poesie

 

Ludwig (82), der nach selbstauferlegter vierzehntägiger Quarantäne wieder draußen herumgefahren war, entdeckte bei seiner Rückkehr im Hausflur einen Zettel mit der Frage „Wer braucht Einkaufhilfe?“ Das Blatt war geteilt, links für potenziell Nachfragende, rechts für Anbietende. Die linke Seite leer, die rechte mit einer Menge Namen jüngerer Hausbewohner. Das ist prima, dachte er, Du brauchst doch Hilfe, zog den kleinen Füllfederhalter, den er immer bei sich trug, aus der Hosentasche und schrieb sich links ein mit Namen, Telefonnummer und E-Mail-Adresse.

In seiner Wohnung notierte er flüchtig auf einem Zettel in der Küche, woran er später am Schreibtisch denken müsse, wenn er vorsorglich eine Einkaufsliste für Einkaufhilfe-Anbietende in den PC tippen würde. Sechs Eier brauchte er zu den noch vorhandenen sechs, um wie alle Jahre am Karfreitagnachmittag Ostereier färben zu können. Er hatte zwei Nichten zum Osterfrühstück eingeladen und wollte ihnen farbige Ostereier bieten. Außerdem brauchte er Nachschub für seinen Nüsse- und Trockenobstvorrat.

Bevor er sich vor den PC setzte, las er die Zeitung, die er am Morgen nicht gelesen hatte. Unter dem Titel „Sinn und Kitsch“ und dem Untertitel „Corona-Notizen, -Briefe, -Journale. Und jetzt auch schon das erste Buch: Warum die neue Zuversichtsprosa eine Zumutung ist“ fand Anton einen klugen und bissig-kritischen Text zur poetischen Verarbeitung der Corona-Krise. Ein italienischer Schriftsteller habe Anfang März ein Tagebuch mit dem Satz begonnen „Ich möchte mir nicht entgehen lassen, was diese Krise über uns selbst enthüllt“. Sein Tagebuch „In Zeiten der Ansteckung“ war in Druck gegeben, ins Deutsche übersetzt und in den Handel gebracht worden – ein „Schnellschuss zur Pandemie“. Im Folgenden bewies die Autorin des FAZ-Artikels, Julia Encke, Literaturwissenschaftlerin, Buchautorin und Journalistin, wie er später nachsah, anhand etlicher Zitate aus den in jüngster Zeit veröffentlichten Corona-Tagebüchern, Corona-Journalen und Corona-Briefen, dass viele dieser Auslassungen wie pathetisch vorgetragene Predigten wirkten, „etwas Poesiealbumhaftes“ hätten und Gedankenkitsch seien.

„Heute keine Todeszahlen vorm Frühstück. Erst Tee, dann Bach, dann beides. Und dann ein Spaziergang.“ Das hatte zum Beispiel die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2016, Carolin Emcke, geschrieben und als „persönlich-politische Notizen“ in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht. Auch Ludwig fand, dass das Zitat nach Leerlauf klinge.

Ludwig interessierte sich vielmehr für die vielen Corona-Krimis, z. B.: Wer trug die Verantwortung für den Corona-Verbreitungsort Ischgl? Funktioniert die Agrar-Industrie ohne Saisonarbeiter? Was machen die Armen in den Favelas und die Flüchtlinge in den Camps?

Das ist doch das wirklich Spannende, dachte Ludwig, blätterte nach längerem Grübeln um und las in den Wirtschaftsnachrichten weiter.

 

 

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