Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Das neue 1986
Lasagne, Mandelmilch, Backpulver, Zimt, Cashews, glutenfreies Mehl, Kokosraspeln, Kokosöl. Hans-Jürgen hatte alles, was Gisela ihm diktierte, aufgeschrieben. Ein Fremder, der Hans-Jürgens verlorenen Einkaufszettel gefunden hätte, würde sofort erkannt haben, dass der Schreiber des unordentlichen Zettels ein auf gesunde Ernährung erpichter Mensch sein musste: Kokosöl zum Beispiel wegen der Fettsäuren gegen Alzheimer und wegen der Antioxidantien gegen schnelle Alterung, Mandelmilch gegen Cholesterin. Auf der Rückseite des Einkaufszettels, auf der Hans-Jürgen Koriander, Salat und Banane notiert hatte, schrieb Gisela noch schnell mit rotem Filzstift, als Hans-Jürgen auf der Toilette war, Binden auf, Bio-Binden aus Baumwolle für ihn, die er seit der Prostataoperation brauchte.
Hans-Jürgen kaufte fast täglich ein – Gisela kümmerte sich seit ihrer Pensionierung um den Haushalt, um die täglichen Mahlzeiten und die Kuchen. Und sie putzte, denn eine Putzfrau, die nicht schwarz bezahlt werden wollte, war nicht zu finden. Aber sie putzte nur Badezimmer, Toilette und Küche, alles andere putzte Hans-Jürgen. Er putzte die Fenster, entstaubte die Rumsteherchen, auch die Bücherregale, und staubsaugte alle Flächen. Dass Gisela Badezimmer und Toilette putzte, lag daran, dass Hans-Jürgen das nicht so gut machte, wie Gisela sich das vorstellte. Insoweit war also bei Gisela und Hans-Jürgen alles so normal wie bei anderen Leuten.
Aber jetzt in Zeiten des Coronavirus, der Pandemie,
da überall Gefahr lauerte, musste alles noch viel gründlicher geputzt werden,
als sonst. Das Coronavirus konnte draußen überall haften, an den Türklinken,
den Einkaufswagen, den Laufbändern und Trennhölzern vor den Supermarktkassen.
Von dort konnte man es nach Hause bringen. Darum war ja das Händewaschen als
wichtigste Schutzmaßnahme Tag für Tag groß vom Bundesministerium für Gesundheit
in allen Tageszeitungen angezeigt. Hans-Jürgen hatte gelesen, dass
Umweltmediziner nachgewiesen hätten, dass Coronaviren bis zu vier Tage auf
unbelebten trockenen Flächen überleben konnten. – Täglich hörte man Neues über
das Virus, über die Anzahl der Gestorbenen, die Börsenabstürze, die
wirtschaftlichen Folgen, die Quarantänegebiete in aller Welt …
Dass Hans-Jürgen sich an den Bildern des Virus
störte, den täglich in allen Medien aufploppenden, fußballgroßen blauen oder
weißen Kugeln mit den roten Strahlenpilzen, die Zombieviren, konnte Gisela
nicht verstehen. Das seien doch nur mediale Platzhalter für das Unsichtbare. –
Täglich sprachen Gisela und Hans-Jürgen über
all das, was mit dem Virus zusammenhing und worauf zu achten war. Ihre
täglichen Virusbesprechungen erinnerten beide an Tschernobyl 1986. Die damaligen
Gefühle gegenüber der Verstrahlung entsprachen den Gefühlen gegenüber dem Coronavirus.
Wie damals musste man sich durch Informiertheit
wappnen. Und man musste Glück haben.
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