Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Der Goldhelm
Als er an der Fleischtheke wartet, hört er
plötzlich: „Kennen wir uns nicht? Bist Du nicht Friederich? Kunstakademie Düsseldorf?
1959“?! – Er sieht die ältere Frau neben sich verdutzt an: Klein, pummelig,
hoch getürmte dichte graue Haare. Und er registriert, dass sie sehr
ungewöhnlich gekleidet ist. Sie trägt einen auffälligen Mantel in
Schlangenoptik und glänzende rote flache Stiefeletten – durchaus attraktiv. Er
ist irritiert, aber dann: „Marianne? Der Goldhelm?! Unglaublich! Wann haben wir
uns zuletzt gesehen? 1959?“ –
Der Fleischthekemann meldet sich vorsichtig zu
Wort „Darf es noch etwas sein?“ – Irritiert schaut er auf seinen Zettel. Dann
sagt er wie verstört: „Zwei Schweinefilets.“ Während der
Fleischverkäufer stumm fragend und zögernd das Messer über das Filet hält,
spürt Friedrich, dass er eine Pause braucht. Er nickt und schweigt, bis die
Fleischscheiben gewogen und eingepackt, der Preis angeheftet und er alle Päckchen
in den Einkaufswagen legen kann. Und er wartet stumm weiter, als Marianne nach
ihren Wünschen gefragt, zwei Entrecôtes verlangt.
Alle Erinnerungen an die blonde Marianne im ersten Semester der Kunstakademie schießen bei ihm zusammen: Marianne hatte ein
Jahr vor ihm den Vorkurs gemacht. Alle nannten sie „der Goldhelm“, weil sie
ihre goldblond schimmernden Haare zu einer fest gedrehten Hochfrisur auftürmte,
eine Frisur, die an den „Mann mit dem
Goldhelm“ von Rembrandt – damals
noch Rembrandt-Original! – erinnerte. Er hatte den Goldhelm beim Essen in der
Mensa kennengelernt. In jenem Sommersemester verliebte er sich so in sie, wie
er vorher noch nie verliebt gewesen war. Etliche warme Frühlings- und Sommerabende saßen sie
eng aneinander auf dem gefährlich schmalen Absatz, der unten an der
Düsseldorfer Kai-Mauer über dem fließenden Rhein entlang lief. Wie er von ihr
dort das Küssen gelernt hatte, so lehrte sie ihn auch das Rauchen „auf Lunge“
mit den Peter Stuyvesant-Zigaretten.
Dies’ erste unvergessliche High-Gefühl!
Neben und hintereinander schieben sie jetzt
mit ihren Einkaufswagen Richtung Kassen.
Worüber soll er mit ihr sprechen? Sie hatte
ihn schon Ende des Sommersemesters 1959 verlassen. Die schrecklichen Szenen zu
Dritt auf den Rheinwiesen in Himmelgeist! Er hielt sie für mannstoll. –
Zwanzig Jahre später traf er in Münster den ehemaligen
Kommilitonen Kuno im Museum. Sie tranken Kaffee, und er erfuhr, dass Kuno
Marianne geheiratet hatte, dass er aber jetzt entsetzlich darunter litt, dass
sie sich von ihm getrennt und sich vor Kurzem mit seinem Scheidungsanwalt
verbandelt hatte.
Worüber soll er mit ihr reden? Soll er sie
fragen, ob sie etwas von Kuno wisse?
Da hört er den durchdringenden Gong der Nachrichtenansage
des Deutschlandfunks, ist wieder wach und fühlt die erleichternde Gewissheit,
dass er nicht mit ihr reden muss. – Alles nur geträumt!
klick!
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