Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Atemschutzmaske
Jean-Charles (49), gebürtiger Straßburger,
aufgewachsen in Hongkong, ist wieder einmal in Berlin, wo er eine
Einzimmerwohnung besitzt. Am liebsten ist er während der Berlinale in der
Stadt. Man könnte Jean-Charles für einen Mann aus der Film-Branche halten, denn
die Geschichte seiner Berlinale-Erfahrungen macht ihn zum Experten – er weiß,
wo man während der Berlinale isst, trinkt und tanzt. Ob Grill Royal am
Schiffbauerdamm, ob Al Contadino sotto le Stelle in der
Auguststraße, ob Hotel Adlon oder Borchardt am Gendarmenmarkt,
Jean-Charles weiß, was wo wann läuft.
Jean-Charles ist ein Typ so zwischen Jean Marais
und Mathieu Carriére, nur weicher, ein Mann, dem die heimlichen Blicke der
Frauen folgen, ein Mann, der bei Frauen leichtes Spiel hat.
Jean-Charles, Simultandolmetscher bei der
EU-Kommission in Brüssel, sitzt im Al Contadino sotto le Stelle mit der
Theater- und Filmschauspielerin Anneke K. S. vor den gerade gebrachten und herrlich
duftenden Pizzen, als sein Iphone vibriert.
Es ist sein Freund Frank B., der zuerst fragt,
wo er gerade sei. Die Polizei brauche ihn als
Chinesisch-Übersetzer am Flughafen Tegel, wo ein Passagier aus Mailand gelandet
sei. Wegen dessen stark erhöhter Temperatur sei er verdächtig, den Corona-Virus
einzuschleppen. Die Polizei werde ihn, Jean-Charles, jetzt in der Auguststraße
abholen und zum Flughafen bringen. Er solle bei der Befragung und bei der
Untersuchung übersetzen.
Erbleichend gibt Jean-Charles den Inhalt des Telefonats
flüsternd an Anneke weiter. Nach stummer Pause trinkt er den Rest Rotwein aus,
erhebt sich, gibt Anneke drei luftige Bizets und wendet sich zurück zur Garderobe.
„Wo kriege ich jetzt einen Mundschutz her“,
stößt er leise hervor. Wenn er doch heut Morgen statt der Packung éponge
synthétic eine Packung Einweg-Mundschutz gekauft und eingesteckt hätte!
Der große und athletische Jean-Charles mit seinen
fülligen, wellig fließenden Locken wirkt auf einmal gar nicht mehr so souverän.
Sich den roten Schal umlegend, erkennt er die
beiden Streifenpolizisten, die da auf ihn warten, eine mit Pferdeschwanz und
einer mit Bart. Er geht auf sie zu. Man bringe ihn jetzt sofort nach Tegel. Der
Mann sei über Istanbul und Mailand nach Tegel gekommen. Er sei ein chinesischer
Monteur, ein Service-Mann für Sozialroboter, der außer absolut unverständlichem
Englisch nur Chinesisch spreche.
Als Jean-Charles in den Streifenwagen steigt,
sieht er, dass auf der Hinterbank schon eine junge Frau sitzt. Sie stellt sich
sofort als Myrielle Florence, Virologin, Klinikärztin, Charité, vor. Während
der Fahrt schiebt ihm Dr. Florence lächelnd eine Klinikatemschutzmaske
zu.
Wie ein Kondom, denkt Jean-Charles und lächelt
Myrielle dankbar zu.
klick!
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