Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Eine pensionierte Kölner Amtsrichterin, die
nichts so gerne tat, wie fremde Texte zu korrigieren, fand Ende August des
Jahres 2019 bei einem Haushalts- und Lebensmitteleinkauf in ihrem Kölner
Supermarkt einen Einkaufszettel, steckte ihn ein und studierte, an den
heimischen Küchentisch zurückgekehrt, diesen fremden Zettel, der, wie nach
erstem Durchlesen und Anschauen zu vermuten, von einer weiblichen Person
unterdurchschnittlicher Bildung und mangelnder Systematik geschrieben worden
war, was sich aus dem Schriftbild, der nicht zweckmäßigen Anordnung in Reihen
statt in einer Liste und den Rechtschreibefehlern – zum Beispiel Mozarella
– schließen ließ.
Aus dem Wort Kaffe, statt Kaffee,
schlussfolgerte die Amtsrichterin, dass es sich bei der Verfasserin des
Einkaufszettels um eine Berlinerin handeln könnte, da Kaffee in berlinischem
Dialekt Kaffe
mit kurz „e“ ausgesprochen wird. Hier stellte sich der Amtsrichterin die Frage,
ob eine Berlinerin ihren Einkaufszettel in Köln verloren haben könnte. Wegen
des hohen Grades an Unwahrscheinlichkeit einer solchen Situation ließ sie diese
Frage unbeachtet.
Wiesen die Notizen 2 x Brot, 2 x Käse darauf
hin, dass es sich bei der Schreiberin des Einkaufzettels um eine Frau handelte,
die eine Familie zu versorgen hatte?
Nachdem die Amtsrichterin, der ihre bisherigen Beobachtungen und Überlegungen wenig hergegeben hatten, aber feststellte, dass die Verfasserin das große O von O-Saft drei Mal nachgezogen hatte, konzentrierte sie sich nun auf die Frage nach dem Grund des Nachziehens und Verstärkens eines Buchstabens. War das Verstärken des „O“ vielleicht auf ein Ausruhen vom angestrengten Nachdenken über in der Aufzählung Noch-Fehlendem zurückzuführen, also auf Abgelenktheit und unbewusstes spielerisches Zeichnen?
Die Kölner Amtsrichterin, die in all ihren
Berufsjahren als Einzelrichterin in Strafsachen ungezählte Menschen als Angeklagte
oder Zeugen, die sie beurteilen und über die sie entscheiden musste, vor sich
gesehen hatte, überlegte, ob es vielleicht auch einen verbrecherischen Grund
für das verstärkte O geben könnte. Wenn zum Beispiel die Verfasserin des Einkaufszettels
daran dachte, aus Überdruss am Ewig-Gleichen, dem Einkaufen, dem
Nach-Hause-Schleppen, Einräumen, Bereitstellen und Zubereiten, den Mitgliedern
ihrer Familie und sich selbst das Leben zu nehmen, so wäre das durch
Einmischung von hochdosiertem Koffein in Pulverform in den O-Saft sehr leicht
möglich, da nach der Einnahme eines solch starken Koffeingetränks schwere
Vergiftungen bis hin zum Tod auftreten.
Aus ihrer Untersuchung des gefundenen Einkaufszettel
wieder auftauchend und sich erneut der Sommerhitze ausgesetzt fühlend, dachte
die Pensionärin erleichtert: „Was für eine gewaltige Spinnerei, über die ich
glücklicherweise nicht mehr zu entscheiden brauche,“ stand vom Küchentisch auf,
füllte sich ein Glas mit Mineralwasser, zerknüllte den gefundenen Einkaufszettel,
warf ihn in den Papierkorb, ging auf ihre Terrasse und sah sich um.
klick!
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