Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
Eine Berliner Familiengeschichte1
Brigitte ist unkonzentriert. Angesichts der Fotos denkt
sie daran, was Oma Luzie ihr ein paar Monate vor ihrem Tod erzählt hat: Maria,
Brigittes Mutter, sei gar nicht das Kind von Opa Lüttke. Der sei 1947 in einem
sowjetischen Gefangenenlager gestorben. Maria sei ein Kind der vielen
Vergewaltigungen, denen sie 1945 durch die russischen Soldaten ausgesetzt
gewesen sei – wochenlang, so gut wie jeden dritten Tag!
Oma Luzie erzählte gewissermaßen ein bisschen vulgär und
wegwerfend davon. Die Männer hätten sie nicht beschützen können. Schließlich hätten
die Männer den Krieg verloren. Die ganze Nazi-Männerwelt sei untergegangen, nur
Frauen und Mädchen hätten überlebt.
Da Brigitte einfällt, dass Götz, ihr Mann, nachmittags
noch einkaufen will, bittet sie Manuela, dies und das auf dem Einkaufszettel wieder
zu streichen.
Brigitte hatte 2004 bei Oma Luzie begriffen, warum ihre
Mutter während der DDR-Zeit immer so begeistert von ihren Aufenthalten in der
Sowjetunion erzählte, warum sie alle klassischen russischen Romane, von
Puschkin bis Tolstoi, gelesen und warum sie Übersetzerin für Russisch geworden
war. Und ihr ist auch klar, warum ihr eigenes Verhältnis zu Russland so sehr
schwankt; mal ist sie für die EU-Sanktionen wegen der Krim-Annexion durch
Russland, mal ist sie ganz dagegen.
Spätnachmittags setzt sich Götz zu Brigitte an den vollkommen
mit Fotos und Fotoalben belegten Tisch, vervollständigt den von der Putzfrau
geschriebenen Einkaufszettel und geht dann zum Einkaufen, während Brigitte sich
weiter mit den Nachlässen ihrer tapferen Großmutter Luzie Lüttke und ihrer
halbrussischen Mutter Maria Hanke beschäftigt.
[1]
Familienzusammenhang: Großmutter Luzie Lückert (1914-2004), 1947 verwitwet /
Tochter Maria Hanke geb. Lüttke (1946-2019) / Enkelin Brigitte Krüger geb.
Hanke (1969) und deren Ehemann Götz Krüger (1968).
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