Sonntag, 2. Januar 2022

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Transition - Detransition

Seit Jahren benutzte Erwin für handschriftliche Notizen aller Art die unbedruckten Seiten der einseitig bedruckten Blätter, die er noch aus den Zeiten seiner Doktorarbeit herumliegen hat. Für Einkaufszettel und Telefonnotizen zerteilte er sich hin und wieder einen Stoß Blätter mit dem Brieföffner. Wenn er dabei zufällig auf die bedruckte Rückseite achtete und ein paar Zeilen las, erinnerte er sich sofort an seine damalige Arbeitssituation. Er schrieb damals an „Liebe und Gerechtigkeit. Über die Relevanz politischer Emotionen für die Politik“. Es ging ihm um die moralische Grundlegung liberaldemokratischer Gesellschaften und darum, dass Anstand und Respekt als emotionale Basis grundlegend sind für die Moral.


Er besuchte das Kolloquium seines Doktorvaters, ging aber nur unregelmäßig hin, weil ihn das, was die anderen vortrugen, meistens nicht besonders interessierte und das Verhältnis zu Prof. B. auch nicht spannungsfrei war.

Immerhin hatte er summa cum laude für die Arbeit bekommen. Aber er hatte viel zu lange daran geschrieben, mehr als fünf Jahre.

Seine aktuellen Probleme wiegen jetzt viel schwerer als die, mit denen er sich während der Doktorarbeit herumquälte, er hatte nämlich seine Doktorarbeit als Erwin begonnen und sie als Laura abgegeben.

Dass er trans sei, wusste er eigentlich schon seit seiner Jugend, als er im Schlafzimmer seiner Eltern heimlich die Kleider seiner Mutter anzog und sich dabei so wohl fühlte.

Seine Transition war eigentlich glückhaft verlaufen. Er nahm regelmäßig Hormone – Östrogene und Testosteronblocker –, hatte eine Brust bekommen, trug Frauenkleider, ließ sich die lang gewachsenen Haare einmal monatlich professionell ondulieren und trug nun den schönen, von ihr selbst gewählten Namen Laura.

Die Hormone hatte sie natürlich erst verschrieben bekommen, nachdem ihr Psychotherapeut und dann ihr Allgemeinarzt ihr bescheinigt hatten, dass bei ihr Transsexualität vorliege.

Glücklicherweise hatte er sich noch nicht operieren lassen, denn seit einigen Monaten hatte er Zweifel. War er wirklich trans? War ihm das Transitionieren vielleicht zu leicht gemacht worden?

Als er zufällig in einer Monatsbeilage der FAZ einen kritischen Bericht zur psychotherapeutischen und ärztlichen Behandlung von Transsexuellen las, sah er plötzlich klar. Es stimmte nicht mehr.


„Warum mit künstlichen Hormonen meinen Mann-Körper kaputt machen“, sagte sich Erwin.

Und aus Laura wurde wieder Erwin.

 

 

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