Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Transition - Detransition
Seit Jahren benutzte Erwin für
handschriftliche Notizen aller Art die unbedruckten Seiten der einseitig
bedruckten Blätter, die er noch aus den Zeiten seiner Doktorarbeit herumliegen
hat. Für Einkaufszettel und Telefonnotizen zerteilte er sich hin und wieder
einen Stoß Blätter mit dem Brieföffner. Wenn er dabei zufällig auf die
bedruckte Rückseite achtete und ein paar Zeilen las, erinnerte er sich sofort
an seine damalige Arbeitssituation. Er schrieb damals an „Liebe und
Gerechtigkeit. Über die Relevanz politischer Emotionen für die Politik“. Es
ging ihm um die moralische Grundlegung liberaldemokratischer Gesellschaften und
darum, dass Anstand und Respekt als emotionale Basis grundlegend sind für die
Moral.
Er besuchte das Kolloquium seines Doktorvaters, ging aber nur unregelmäßig hin, weil ihn das, was die anderen vortrugen, meistens nicht besonders interessierte und das Verhältnis zu Prof. B. auch nicht spannungsfrei war.
Immerhin hatte er summa cum laude für die
Arbeit bekommen. Aber er hatte viel zu lange daran geschrieben, mehr als fünf Jahre.
Seine aktuellen Probleme wiegen jetzt viel
schwerer als die, mit denen er sich während der Doktorarbeit herumquälte, er
hatte nämlich seine Doktorarbeit als Erwin begonnen und sie als Laura
abgegeben.
Dass er trans sei, wusste er eigentlich schon
seit seiner Jugend, als er im Schlafzimmer seiner Eltern heimlich die Kleider
seiner Mutter anzog und sich dabei so wohl fühlte.
Seine Transition war eigentlich glückhaft
verlaufen. Er nahm regelmäßig Hormone – Östrogene und Testosteronblocker –,
hatte eine Brust bekommen, trug Frauenkleider, ließ sich die lang gewachsenen
Haare einmal monatlich professionell ondulieren und trug nun den schönen, von
ihr selbst gewählten Namen Laura.
Die Hormone hatte sie natürlich erst verschrieben
bekommen, nachdem ihr Psychotherapeut und dann ihr Allgemeinarzt ihr
bescheinigt hatten, dass bei ihr Transsexualität vorliege.
Glücklicherweise hatte er sich noch nicht
operieren lassen, denn seit einigen Monaten hatte er Zweifel. War er wirklich
trans? War ihm das Transitionieren vielleicht zu leicht gemacht worden?
Als er zufällig in einer Monatsbeilage der FAZ
einen kritischen Bericht zur psychotherapeutischen und ärztlichen Behandlung
von Transsexuellen las, sah er plötzlich klar. Es stimmte nicht mehr.
„Warum mit künstlichen Hormonen meinen Mann-Körper kaputt machen“, sagte sich Erwin.
Und aus Laura wurde wieder Erwin.
klick!
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