Mittwoch, 10. November 2021

 

Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

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Marthas unbegreiflicher Weinkrampf


 Martha und Svenja sind seit Langem ein Paar, ein lebenslustiges Paar. Sie leben seit 24 Jahren zusammen in einer geräumigen Souterrainwohnung mit Garten in Friedenau.

Die Wocheneinkäufe planen sie samstagmorgens beim Frühstück. Martha schreibt auf und kauft dann bei REWE ein, während Svenja auf den Wochenendmarkt geht. Martha nimmt den Wocheneinkaufsplan zum Einkauf mit, Svenja, die Spontane, braucht keinen Einkaufszettel.

Beide habe ein ziemlich spleeniges Hobby: Sie sammeln gefundene Einkaufszettel. An gemeinsamen Samstagabenden – bei ein oder zwei Flaschen Rotwein und Kerzen – kommt es vor, dass sie die gefundenen Einkaufszettel in ein altes leeres, ledergebundenes Fotoalbum einkleben, sie gemeinsam interpretieren und sich an ihren Spekulationen amüsieren.

Samstagabend. Der Einkaufszettel, den Martha heute bei REWE gefunden und ohne ihn zu lesen, schnell eingesteckt hat, dieser Zettel, den beide nach erster Sichtung wegen der kultivierten Intellektuellen-Handschrift, der Wochentagskürzel Sa, So, Mo zu Anfang und der nicht ganz leicht zu entziffernden Notizen fürs Erste recht komplex finden, löst urplötzlich bei Martha – einen Weinkrampf aus. „Was ist los?“ Svenja erschrickt. Fest umarmt sie Martha. Löst sich, holt Svenjas Kuscheltier. – Svenja gelingt es nicht, Martha zu beruhigen.

Zusammengekauert auf dem Teppich – ohne ein Wort – weint Martha, laut und haltlos. Nach fast einer Stunde beherzter und liebevoller Bekümmerung selbst aufgelöst, wählt Svenja schließlich die Notarzt-Nummer.

Als die Männer vom Roten Kreuz Martha mit der Bahre auf die blau beflackerte Straße zu ihrem Rettungswagen tragen, hört die nebenher laufende Svenja aus Marthas Weinkrampf die ersten leise stoßenden Worte heraus: Tastatur für Mama …

Svenja steigt mit dem Arzt vom Notdienst in den Rote-Kreuz-Wagen. Sie weiß, dass sie den Arzt in der Rettungsstation im Gertrauden Krankenhaus aufklären muss – über Marthas berufliche Situation, über Marthas Belastung als allein verantwortliche Hausmeisterin zweier Schulen – der Stechlinsee-Grundschule und dem benachbarten Rheingau-Gymnasium.

Was für eine verrückte Geschichte, denkt Svenja später im Bett – was bedeutet für Martha dieses ominöse Tastatur für Mama, das doch vielleicht nur „Tartar für Mama“ heißt?

Das muss Marthas Psychologin rauskriegen.

 

 

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