Samstag, 4. Dezember 2021

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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 Fragen einer pensionierten Amtsrichterin

Eine pensionierte Kölner Amtsrichterin, die nichts so gerne tat, wie fremde Texte zu korrigieren, fand Ende August des Jahres 2019 bei einem Haushalts- und Lebensmitteleinkauf in ihrem Kölner Supermarkt einen Einkaufszettel, steckte ihn ein und studierte, an den heimischen Küchentisch zurückgekehrt, diesen fremden Zettel, der, wie nach erstem Durchlesen und Anschauen zu vermuten, von einer weiblichen Person unterdurchschnittlicher Bildung und mangelnder Systematik geschrieben worden war, was sich aus dem Schriftbild, der nicht zweckmäßigen Anordnung in Reihen statt in einer Liste und den Rechtschreibefehlern – zum Beispiel Mozarella – schließen ließ.

Aus dem Wort Kaffe, statt Kaffee, schlussfolgerte die Amtsrichterin, dass es sich bei der Verfasserin des Einkaufszettels um eine Berlinerin handeln könnte, da Kaffee in berlinischem Dialekt Kaffe mit kurz „e“ ausgesprochen wird. Hier stellte sich der Amtsrichterin die Frage, ob eine Berlinerin ihren Einkaufszettel in Köln verloren haben könnte. Wegen des hohen Grades an Unwahrscheinlichkeit einer solchen Situation ließ sie diese Frage unbeachtet.

Wiesen die Notizen 2 x Brot, 2 x Käse darauf hin, dass es sich bei der Schreiberin des Einkaufzettels um eine Frau handelte, die eine Familie zu versorgen hatte?

Nachdem die Amtsrichterin, der ihre bisherigen Beobachtungen und Überlegungen wenig hergegeben hatten, aber feststellte, dass die Verfasserin das große O von O-Saft drei Mal nachgezogen hatte, konzentrierte sie sich nun auf die Frage nach dem Grund des Nachziehens und Verstärkens eines Buchstabens. War das Verstärken des „O“ vielleicht auf ein Ausruhen vom angestrengten Nachdenken über in der Aufzählung Noch-Fehlendem zurückzuführen, also auf Abgelenktheit und unbewusstes spielerisches Zeichnen?

Die Kölner Amtsrichterin, die in all ihren Berufsjahren als Einzelrichterin in Strafsachen ungezählte Menschen als Angeklagte oder Zeugen, die sie beurteilen und über die sie entscheiden musste, vor sich gesehen hatte, überlegte, ob es vielleicht auch einen verbrecherischen Grund für das verstärkte O geben könnte. Wenn zum Beispiel die Verfasserin des Einkaufszettels daran dachte, aus Überdruss am Ewig-Gleichen, dem Einkaufen, dem Nach-Hause-Schleppen, Einräumen, Bereitstellen und Zubereiten, den Mitgliedern ihrer Familie und sich selbst das Leben zu nehmen, so wäre das durch Einmischung von hochdosiertem Koffein in Pulverform in den O-Saft sehr leicht möglich, da nach der Einnahme eines solch starken Koffeingetränks schwere Vergiftungen bis hin zum Tod auftreten.

Aus ihrer Untersuchung des gefundenen Einkaufszettel wieder auftauchend und sich erneut der Sommerhitze ausgesetzt fühlend, dachte die Pensionärin erleichtert: „Was für eine gewaltige Spinnerei, über die ich glücklicherweise nicht mehr zu entscheiden brauche,“ stand vom Küchentisch auf, füllte sich ein Glas mit Mineralwasser, zerknüllte den gefundenen Einkaufszettel, warf ihn in den Papierkorb, ging auf ihre Terrasse und sah sich um.

 

 

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