Illustrierte Kürzestgeschichten
Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –
wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.
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Lockerungserlebnisse
Konrads Armbanduhr, die Mondaine, seine
Schweizer Bahnhofsuhr, war stehen geblieben, aber wegen des Corona-Lockdown war
das einzige Geschäft in seiner Gegend, Luxus-Uhren Lux, in dem er sich eine
neue Batterie hätte einsetzen lassen können, geschlossen, sodass er auf die
ersten Lockdown-Lockerungen warten musste.
Am zweiten bundesrepublikweiten Lockdown-Tag,
den 23. April, gegen 15 Uhr vor dem Uhren-Geschäft eintreffend, sah sich
Konrad, auf seinem E-Scooter sitzend, einem groß gewachsenen, in einen
edlen schwarzen Anzug mit Weste gekleideten und mit schwarzen Gummihandschuhen
und weißem Mundschutz ausgestattetem Türhüter gegenüber, der nach dem
automatischen Öffnen der Tür aus dem Inneren auf ihn zugetreten war, um nach
seinem Begehr zu fragen. Kafkaesk, dachte Konrad, während er dem Türhüter seine
Mondaine und zugleich zwecks möglichst schneller Abwicklung des
Batterieeinsetzens und Rechnungstellens auch seine Checkkarte übergab, womit
der Türhüter im Inneren verschwand. Zurückkehrend stellte ihm der Türhüter
anheim, noch etwas zu besorgen, da es mindestens eine Viertelstunde dauern
könne, bis sein Auftrag erledigt sei.
Kurz nachdenkend, entschloss sich Konrad, zur nächsten Tankstelle zu fahren, um den Reifendruck seiner Scooterreifen überprüfen zu lassen, was ja auch mal wieder anstand, bat aber zuvor noch den Türhüter, ihm seine Checkkarte zurückzuholen.
Als er auf dem Gelände der Tankstelle den Luftdruckprüfautomaten
erreicht hatte, sah er neben dem linken Scooterreifen einen schmutzigen Einkaufszettel
auf dem Boden liegen, beugte sich herunter, um die Schrift zu lesen, erkannte
auf den ersten Blick, dass ihm dessen Handschrift sehr unsympathisch sei und machte
doch schnell ein Foto davon.
In diesem Moment näherte sich ihm ein junger,
vielleicht vierzigjähriger Autofahrer, der offenbar erkannt hatte, dass Konrad
für die Reifendruckprüfung Hilfe brauchte, fragt nach dem Sollluftdruck für
vorne und hinten, stellte die erste Zahl an der Uhr ein, bückte sich, schraubte
die Kappe vom ersten Ventil, setzte den Verschluss des Schlauchs auf und
startete in diesem Moment seine immer zudringlicher wirbelnden Fragen und
Statements – ob Konrad auch hier wohne, ob er eine schöne große Wohnung habe,
was er früher gearbeitet habe, dass er selbst habe auch studieren wollen, dass
seine Mutter das nicht habe finanzieren können, dass er jetzt nur Auslieferer
bei REWE sei, wie er heiße, ob er bei Facebook sei, ob sie sich nicht mal zu
einer Tasse Kaffe treffen könnten – die erst endeten, als Konrad ihm eine Münze
als Trinkgeld gab. Da drückte ihm der fremde Mensch blitzschnell die Hand und
dankte überschwänglich redend – keine 50 cm vor Konrads Gesicht.
Voller Schrecken sich verabschiedend, wendete Konrad, fuhr auf die
Straße zurück und gab Gas. Social Distancing, dachte er, ist eine Frage von
Intelligenz und Disziplin.
klick!
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