Freitag, 28. Januar 2022

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Lockerungserlebnisse

Konrads Armbanduhr, die Mondaine, seine Schweizer Bahnhofsuhr, war stehen geblieben, aber wegen des Corona-Lockdown war das einzige Geschäft in seiner Gegend, Luxus-Uhren Lux, in dem er sich eine neue Batterie hätte einsetzen lassen können, geschlossen, sodass er auf die ersten Lockdown-Lockerungen warten musste.

Am zweiten bundesrepublikweiten Lockdown-Tag, den 23. April, gegen 15 Uhr vor dem Uhren-Geschäft eintreffend, sah sich Konrad, auf seinem E-Scooter sitzend, einem groß gewachsenen, in einen edlen schwarzen Anzug mit Weste gekleideten und mit schwarzen Gummihandschuhen und weißem Mundschutz ausgestattetem Türhüter gegenüber, der nach dem automatischen Öffnen der Tür aus dem Inneren auf ihn zugetreten war, um nach seinem Begehr zu fragen. Kafkaesk, dachte Konrad, während er dem Türhüter seine Mondaine und zugleich zwecks möglichst schneller Abwicklung des Batterieeinsetzens und Rechnungstellens auch seine Checkkarte übergab, womit der Türhüter im Inneren verschwand. Zurückkehrend stellte ihm der Türhüter anheim, noch etwas zu besorgen, da es mindestens eine Viertelstunde dauern könne, bis sein Auftrag erledigt sei.

Kurz nachdenkend, entschloss sich Konrad, zur nächsten Tankstelle zu fahren, um den Reifendruck seiner Scooterreifen überprüfen zu lassen, was ja auch mal wieder anstand, bat aber zuvor noch den Türhüter, ihm seine Checkkarte zurückzuholen.

Als er auf dem Gelände der Tankstelle den Luftdruckprüfautomaten erreicht hatte, sah er neben dem linken Scooterreifen einen schmutzigen Einkaufszettel auf dem Boden liegen, beugte sich herunter, um die Schrift zu lesen, erkannte auf den ersten Blick, dass ihm dessen Handschrift sehr unsympathisch sei und machte doch schnell ein Foto davon.

In diesem Moment näherte sich ihm ein junger, vielleicht vierzigjähriger Autofahrer, der offenbar erkannt hatte, dass Konrad für die Reifendruckprüfung Hilfe brauchte, fragt nach dem Sollluftdruck für vorne und hinten, stellte die erste Zahl an der Uhr ein, bückte sich, schraubte die Kappe vom ersten Ventil, setzte den Verschluss des Schlauchs auf und startete in diesem Moment seine immer zudringlicher wirbelnden Fragen und Statements – ob Konrad auch hier wohne, ob er eine schöne große Wohnung habe, was er früher gearbeitet habe, dass er selbst habe auch studieren wollen, dass seine Mutter das nicht habe finanzieren können, dass er jetzt nur Auslieferer bei REWE sei, wie er heiße, ob er bei Facebook sei, ob sie sich nicht mal zu einer Tasse Kaffe treffen könnten – die erst endeten, als Konrad ihm eine Münze als Trinkgeld gab. Da drückte ihm der fremde Mensch blitzschnell die Hand und dankte überschwänglich redend – keine 50 cm vor Konrads Gesicht.

Voller Schrecken sich verabschiedend, wendete Konrad, fuhr auf die Straße zurück und gab Gas. Social Distancing, dachte er, ist eine Frage von Intelligenz und Disziplin.

 

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