Samstag, 15. Januar 2022

 Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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Der Goldhelm

 

Als er an der Fleischtheke wartet, hört er plötzlich: „Kennen wir uns nicht? Bist Du nicht Friederich? Kunstakademie Düsseldorf? 1959“?! – Er sieht die ältere Frau neben sich verdutzt an: Klein, pummelig, hoch getürmte dichte graue Haare. Und er registriert, dass sie sehr ungewöhnlich gekleidet ist. Sie trägt einen auffälligen Mantel in Schlangenoptik und glänzende rote flache Stiefeletten – durchaus attraktiv. Er ist irritiert, aber dann: „Marianne? Der Goldhelm?! Unglaublich! Wann haben wir uns zuletzt gesehen? 1959?“ –

Der Fleischthekemann meldet sich vorsichtig zu Wort „Darf es noch etwas sein?“ – Irritiert schaut er auf seinen Zettel. Dann sagt er wie verstört: „Zwei Schweinefilets.“ Während der Fleischverkäufer stumm fragend und zögernd das Messer über das Filet hält, spürt Friedrich, dass er eine Pause braucht. Er nickt und schweigt, bis die Fleischscheiben gewogen und eingepackt, der Preis angeheftet und er alle Päckchen in den Einkaufswagen legen kann. Und er wartet stumm weiter, als Marianne nach ihren Wünschen gefragt, zwei Entrecôtes verlangt.

Alle Erinnerungen an die blonde Marianne im ersten Semester der Kunstakademie schießen bei ihm zusammen: Marianne hatte ein Jahr vor ihm den Vorkurs gemacht. Alle nannten sie „der Goldhelm“, weil sie ihre goldblond schimmernden Haare zu einer fest gedrehten Hochfrisur auftürmte, eine Frisur, die an den „Mann mit dem Goldhelm“ von Rembrandt – damals noch Rembrandt-Original! – erinnerte. Er hatte den Goldhelm beim Essen in der Mensa kennengelernt. In jenem Sommersemester verliebte er sich so in sie, wie er vorher noch nie verliebt gewesen war. Etliche warme Frühlings- und Sommerabende saßen sie eng aneinander auf dem gefährlich schmalen Absatz, der unten an der Düsseldorfer Kai-Mauer über dem fließenden Rhein entlang lief. Wie er von ihr dort das Küssen gelernt hatte, so lehrte sie ihn auch das Rauchen „auf Lunge“ mit den Peter Stuyvesant-Zigaretten. Dies’ erste unvergessliche High-Gefühl!

Neben und hintereinander schieben sie jetzt mit ihren Einkaufswagen Richtung Kassen.

Worüber soll er mit ihr sprechen? Sie hatte ihn schon Ende des Sommersemesters 1959 verlassen. Die schrecklichen Szenen zu Dritt auf den Rheinwiesen in Himmelgeist! Er hielt sie für mannstoll. –

Zwanzig Jahre später traf er in Münster den ehemaligen Kommilitonen Kuno im Museum. Sie tranken Kaffee, und er erfuhr, dass Kuno Marianne geheiratet hatte, dass er aber jetzt entsetzlich darunter litt, dass sie sich von ihm getrennt und sich vor Kurzem mit seinem Scheidungsanwalt verbandelt hatte.

Worüber soll er mit ihr reden? Soll er sie fragen, ob sie etwas von Kuno wisse?

Da hört er den durchdringenden Gong der Nachrichtenansage des Deutschlandfunks, ist wieder wach und fühlt die erleichternde Gewissheit, dass er nicht mit ihr reden muss. – Alles nur geträumt!

 

 

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