Freitag, 17. Dezember 2021

 

Illustrierte Kürzestgeschichten

Inspiriert durch gefundene Einkaufszettel –

wöchentlich erzählt von März 2019 bis Juli 2020.

 

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 Interview   Dr. Egemen Gümüş

 

h3d:       Herr Dr. Gümüş, ich sehe Sie mit einem Einkaufszettel in der Hand?

E. G.:     Meine Frau möchte ein neues Rezept ausprobieren, um ihren Eltern ein besonderes Pesto zur Pasta servieren zu können. Pürierte Avocado, frisches Basilikum, geröstete Knoblauchzehen, Pinienkerne, aramellisierte Kirschtomaten – ein mediterranes Rezept. Meine Frau ist italienischer Herkunft; ihre Eltern sind Ende der 70er Jahre nach Süddeutschland gekommen.

h3d:       Wie ist denn Ihr Migrationshintergrund?

E. G.:     Meine Eltern sind ebenfalls in den siebziger Jahren eingewandert – aus Anatolien.

h3d:       Eine deutsch-italienisch-türkische Verbindung: Sie katholisch, er Moslem, funktioniert das?

E. G.:     Meine Eltern sind Aleviten. Nächstenliebe, Humanismus und religiöser Kosmopolitismus prägen das Alevitentum. Wegen der Unterdrückung ihres Glaubens haben meine Eltern die Türkei verlassen.

h3d:       Sind Ihre Kinder religiös erzogen?

E. G.:     Se sind christlich – katholisch – getauft, wir gehen mit ihnen in die Kirche und ins Cemevi.

 

Eine rothaarige Kellnerin bringt zwei Cappuccinos.

 

h3d:       Soweit der Einkaufszettel. Eigentlich bin ich hier, um von Ihnen etwas über die neuesten Forschungserkenntnisse in der Paläoanthropologie zu erfahren.

E. G.:     Da man im Höhlensystems von Sterkfontain, Südafrika, mehr Funde vermutete, suchte man kleine, wendige und höhlenerfahrene Nachwuchswissenschaftler, die alles stehen und liegen lassen konnten, sofort bereit stünden und sich durch enge Spalten zwängen könnten. Einer davon war ich. Wir hatten nur eine Woche Zeit, und am Ende der Woche hatten wir mehr als 1.200 Fragmente von Frühmenschenskeletten gefunden, mehr Teile als alle Funde in den vergangenen 90 Jahren zusammen. Knochen von Frauen und Männern, Heranwachsendem, Kindern und Babys. – Das hat zu der aufregenden Entwicklung in der Paläoanthropologie geführt, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Frühmenschenarten verschwimmen. Aus dem aufrecht gehenden Affen sollte sich, so die bisherige Lehrmeinung, irgendwo in Ostafrika die Gattung Homo entwickelt haben – zunächst Homo habilis, dann Homo erectus, schließlich Homo sapiens. Doch so geradlinig kann die Entwicklung nicht verlaufen sein. Heute kennen wir 20 Hominidenarten, die in den letzten sieben Millionen Jahren gelebt haben. Die Geschichte der Menschwerdung ist viel komplizierter als gedacht.


h3d:       Und wie geht es nun weiter?

E. G.:     Wir fotografieren und scannen alles und bitten die Genetiker um die Analyse der DNA der antiken               Häupter.

 

h3d hebt Gümüş’ Einkaufszettel vom Boden auf und legt ihn auf den Tisch.

 

h3d:       Hier – vergessen Sie Ihren Einkaufszettel nicht. Und herzlichen Dank für das Interview, Herr  Gümüş.

E. G.:     Bitte – es war mir ein Vergnügen.

 

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